Interview mit dem Judo Trainer Jürgen Wissler

Judo der sanfte Weg

Oder wie man durch Nachgeben siegen kann.
Ein Interview mit dem Judo Trainer Jürgen Wissler

Judo – die meisten haben schon von Judo gehört und vielleicht sofort ein Bild im Kopf von asiatischen Kriegern, die unter Kampfgeschrei ihre Gegner durch die Luft wirbeln. Doch was nur wenige wissen, ist, dass hinter dieser Kampfsportart ein komplexer Wertekodex steht, der von Ernsthaftigkeit, Bescheidenheit, Mut, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit, Wertschätzung, Selbstbeherrschung und Respekt spricht. So wird zum Beispiel der Respekt vor dem Gegner vor jedem Kampf durch Verbeugen und nach dem Kampf durch Händereichen ausgedrückt. Im Judo geht es neben dem Sport und den Techniken an sich daher vor allem auch um die Entwicklung der Persönlichkeit.

Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass der Judosport auch in Schulen zunehmend Raum findet. So führt der langjährige Judotrainer des JC Stegen, Jürgen Wissler, jedes Jahr mit den Schülern des Kollegs St. Sebastian, Stegen, eine Judoeinheit zum Thema „Soziales Lernen“ durch.

CS: Jürgen, seit vielen Jahren leitest Du nun schon die Judostunde am Kolleg St. Sebastian. Wie kam es dazu und was hat Judo eigentlich mit sozialem Lernen zu tun?

JW: Kontakt zum Kolleg gibt es schon seit vielen Jahren, auch meine beiden Kinder sind dort zur Schule gegangen. Ein Sportlehrer, der selbst den schwarzen Gürtel in Ju-Jutsu besitzt, hat mich dann damals angefragt, ob ich für die Fünft-Klässler im Rahmen der Aktion „Soziales Lernen“ eine Judo Stunde abhalten könnte. Auf der Judo-Matte gehen wir ja ganz speziell miteinander um. Zum einen kann man sich kämpferisch austoben und Kräfte messen, auf der anderen Seite gibt es klare Regeln, die für Sicherheit und Schutz sorgen. Das ist für viele eine tolle Erfahrung und macht den Schülern jedes Mal einen riesigen Spaß. Sie lernen dabei ganz viel über Respekt und Rücksicht, aber auch, dass die vermeintlich starken Jungs gegen so manches Mädchen ganz schön alt aussehen.

Ursprünglich wurde Judo 1882 von Jigoro Kano in Japan entwickelt und eroberte von dort aus die ganze Welt; seit 1964 ist Judo auch olympisch. Judo ist japanisch und bedeutet ungefähr so viel wie „der sanfte Weg“ oder auch „Siegen durch Nachgeben“: der Kämpfer versucht, die Bewegungen des Gegners zu nutzen und seine Kraft zum eigenen Sieg zu verwenden.

CS: Judo bedeutet ja „sanfter Weg“ oder auch „Siegen durch Nachgeben“. Was genau ist an einer Kampfsportart denn sanft?

JW: Ja, das frag ich mich nach einem intensiven Randori auch manchmal. Aber das liegt eher an der eigenen unvollkommenen Technik. Wenn man dagegen mal einem japanischen Judo Altmeister zusieht, dann erkennt man schnell, dass er scheinbar ohne Kraft die Angriffe pariert und mit ein paar Bewegungen die Gegner wirft. Er erkennt die Absicht des Angriffs und nutzt die Bewegung des Angreifers zum eigenen Vorteil aus. Das ist dann wie Schachspiel. Tatsächlich gibt es auch im Judo Wettkampf kaum einen dankbareren Gegner, als einen, der „blindwütig“ auf die Matte stürmt.

Judo ruht auf zwei großen Säulen, und zwar der Kata, bei welcher der Judoka mit dem Partner ein eingespieltes Team bildet und eine feste, zeremonielle Choreographie aus Würfen vorführt, und dem Randori, dem Übungskampf oder auch Wettkampf, in dem die gelernten Techniken einem Gegner gegenüber angewendet werden sollen, einem Gegner, den man sich allerdings nicht aussuchen kann.

CS: Jede Schulklasse kennt Konkurrenz, Angeberei oder „neben der/dem will ich nicht sitzen“– die Judo-Werte sprechen aber von Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft. Sind Konkurrenz, Angeben und mangelnde Offenheit anderen gegenüber also keine Themen im Judo-Training?

JW: Konkurrenz und Bescheidenheit oder auch Hilfsbereitschaft schließen sich doch nicht aus. Selbstverständlich lebt gerade auch der Kampfsport von gesunder Konkurrenz. Aber ich brauche vor allem Partner im Training, um Techniken zu erlernen und zu verbessern. Ich muss mich meinem Partner anpassen. Der Stärkere muss Rücksicht nehmen und der Schwächere muss sich anstrengen. Am Ende profitieren beide dabei. Bei uns trainieren Jungs mit Mädchen, Dick mit Dünn, Alt mit Jung und so weiter. Ein Judoka mit Vorurteilen wäre ein einsamer Judoka und damit ein schlechter Wettkämpfer.

CS: Deine beiden Kinder Sanja und Ivo haben Judo sogar als Leistungssport betrieben und kämpften in Bundesliga-Mannschaften. In der Zwischenzeit sind sie erwachsen und berufstätig. Inwiefern hat der Judosport ihre Entwicklung beeinflusst, beziehungsweise welche ihrer Kompetenzen hat er besonders gefördert?

JW: Jeder Leistungssportler lernt vor allem eines, ganz unabhängig von der Sportart: er muss sich ein Ziel vornehmen und dann ganz viel dafür tun, um es zu erreichen. Ja, das ist erst mal nicht lustig, sondern verlangt nach Disziplin und dem einen oder anderen Opfer: viermal Training pro Woche und am Wochenende Wettkampf. In den Ferien sind Lehrgänge und die Schule darf nicht darunter leiden, sonst fliegt man aus dem Kader. Das gilt wie gesagt für alle Sportarten gleichermaßen und prägt die Persönlichkeit. Ehemalige Leistungssportler sind gewohnt, auch später ihre Ziele mit dem notwendigen Ehrgeiz zu erreichen. Beim Judo kommen weitere wichtige Faktoren dazu: soziale Kompetenzen, Mut und der Umgang mit absoluten Stresssituationen. Du weißt ja aus eigener Erfahrung, dass Du beim Judo-Wettkampf Deinem Gegner alleine auf der Matte gegenüberstehst. Deine Mannschaft feuert Dich an, Deine Eltern sehen zu. Es gibt kein Verstecken, kein Mitlaufen oder nur auf dem Platz Stehen. Aber mit der Zeit geht man immer gelassener mit diesen Druck-Situationen um. Das hilft enorm auch im Alltag, bei Prüfungen zum Beispiel. Ja, ich glaube der Leistungssport und insbesondere die Judo-Wettkämpfe haben meine Kinder zu starken Persönlichkeiten reifen lassen, die erfolgreich in ihren Berufen ihren Mann bzw. ihre Frau stehen.

Aber nicht nur das macht ein Judo-Training so besonders, es ist auch sein polysportiver Charakter, das heißt, man übt nicht nur Judotechniken, sondern wärmt sich z.B. auch mit ganz anderen Sportarten auf und trainiert mit ihnen gezielt Beweglichkeit und Schnelligkeit. Ein gutes Beispiel ist das Fallen. Das Fallen und das gleichzeitige Schützen von Kopf und Oberkörper lernt man im Judo vom allerersten Training an. Und wer dann außerhalb des Trainings stürzt, hat ein wesentlich geringeres Verletzungsrisiko, weil das Abrollen reflexartig und ganz von alleine kommt.

CS: Wenn Judo für so viele Werte und Ansätze steht, die heute als wichtiger denn je bezeichnet werden und, wenn Judo gleichzeitig sportlich so außerordentlich vielseitig ist, warum ist Judo dann nicht viel populärer?

JW: Sport im Verein ist generell nicht mehr populär, schon gar nicht leistungsorientiert. Vielleicht stimmt es doch, dass wir eine Spaßgesellschaft sind. Während sich in den Trainings jedes Mal so um die 20 jugendliche Judokas auf der Matte tummeln, starten nur die wenigsten regelmäßig auf Meisterschaften. Das liegt aber meines Erachtens vor allem an den Eltern. Die haben einfach keine Lust ihre Kinder zu einem Turnier zu begleiten. Man müsste ja vielleicht einmal alle zwei Monate einen Samstag opfern. Da werden dann alle möglichen Gründe aufgebracht. Du glaubst gar nicht wie viele Omas immer am Samstag Geburtstag haben.

CS: Und was wünschst Du Dir für den Judosport in der Zukunft?

JW: Ich träume immer noch von einem Modell, wo Eltern und Jugendliche gemeinsam Judo trainieren. Es gab und gibt für mich nichts Besseres, als mit den eigenen Kindern sich auf der Matte zu messen. Leider trauen sich die wenigsten Eltern. Es wäre sicher für die meisten sehr lehrreich, wie stark der Sohn oder die Tochter ist. Es ist nie zu spät, um mit Judo anzufangen. Vielleicht findet sich so auch leichter Trainernachwuchs. Frauen und Männer, die gerne mit Jugendlichen arbeiten. Das würde ich mir wirklich wünschen.

CS: Jürgen, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Cosima Stülpnagel 2018 im Rahmen eines Zisch-Projektes für die Badische Zeitung.